Nackt
Es ist beunruhigend, mit jemandem zu telefonieren, von dem man weiß, dass er nackt ist. Hin und wieder ruft man vielleicht einen Bekannten an, der «Du hast mich gerade auf dem Weg unter die Dusche erwischt» sagt, aber das ist was anderes. Der Mann in der Nudistenkolonie hörte sich an, als sei er schon seit Jahren nackt. Sogar seine Stimme war sonnengebräunt.
«Also schön, waren Sie schon mal bei uns? Nein? Na, da steht Ihnen ja noch eine ganz besondere Freude bevor. Wir haben einen beheizten Swimmingpool, eine Sauna, Whirlpool-Becken und einen voll beschickten Fischteich zum Angeln.»
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Arsch aussah, nachdem er mehrere Stunden auf einen umgestürzten Baumstamm gedrückt gewesen war, aber das Bild war zu brutal, und ich verschloss mein geistiges Auge davor.
«Wir können mit Ihnen einen Rundgang machen und Ihnen, sobald Sie da sind, alles zeigen. Bis dahin schicke ich Ihnen mit Vergnügen eine Broschüre. Ich will mir nur rasch … äh Ihre Anschrift … äh notieren …»
Wo, fragte ich mich, bewahrte der Mann seinen Kugelschreiber auf? Im Gegensatz zu mir konnte er nie instinktiv in die Brusttasche greifen. Schlüssel, Feuerzeuge, Zigaretten, Kleingeld –, alles, was ein vernünftiger Mensch so bei sich tragen mochte, war bei ihm irgendwo anders zusammengemüllt, und er brauchte einige Zeit, bis er etwas fand, womit er schreiben konnte. Er schrieb sich Namen und Adresse auf und sagte: «Also gut, wir freuen uns auf Ihren Besuch.»
«Ja. Ganz recht. Kann ich mir vorstellen.» Quatschkopf. Ich hatte nur angerufen, um die Broschüre zu kriegen, die ich meinem Bruder Paul als kleinen Scherz zukommen lassen wollte, da er, als er in seiner Eigenschaft als Parkettabschleifer eine Ladung Polyurethan verschüttet hatte, von den entgeisterten Besitzern der Eigentumswohnung, in der er arbeitete, nackt angetroffen worden war. Seitdem er mir das erzählt hatte, rief ich ihn ständig an, um ihm weitere Aktivitäten vorzuschlagen, denen er im Lichtkleid frönen konnte.
«Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es ein gottverdammter Unfall war.» Er schreit so laut, dass ich den Hörer vom Ohr weghalten muss. «Unten in der Küche hatte ich saubere Klamotten, du Arsch mit Ohren, und ich habe nur versucht, da Umzukommen, als …»
Ungerührt bohre ich weiter. «Oder rudern. Das kann auch nackt sehr schön sein. Es gibt so vieles, was ein Mensch wie du unbekleidet unternehmen kann. Brauchst dich deiner Sehnsüchte nicht zu schämen. Wenn’s Spaß macht, nur zu! Das ist doch die Devise von euch jungen Leuten.»
Ich mache weiter, bis er den Hörer auf die Gabel knallt, nachdem er gedroht hat, er werde seinen Bundesstaat verlassen und meinen aufsuchen, um mir in den Arsch zu treten. Diese Broschüre wird ihm endgültig den Rest geben. Später fiel mir ein, dass ich sie ihm hätte direkt nach North Carolina ins Haus schicken lassen sollen. Das hätte viel stärker gewirkt, aber ich will nicht schon wieder bei der Kolonie anrufen, sonst glauben die noch, ich spinne. Heute Nachmittag kam meine Broschüre mit der Post, und da steht folgendes drin: «Körperakzeptanz ist die Idee. Nacktfreizeit ist der Weg dorthin. Bringen Sie Handtücher und Sonnenschutz mit und entspannen Sie sich mit uns. Sie werden eine Bewegungsfreiheit kennenlernen, die angezogen nicht erfahrbar ist: die Freiheit, ganz man/frau selbst zu sein.»
Auf den Abbildungen der Broschüre sieht man/frau einen Swimmingpool, den voll beschickten Fischteich, eine Sonnenterrasse und das unvermeidliche Volleyballfeld, welches mir die Frage aufdrängt: Was ist das mit diesen Leuten und Volleyball? Die beiden gehen Hand in Hand. Wenn ich «Nudist» denke, denke ich nicht «Penis», sondern «Netz».
Außerdem ist im Kuvert noch ein Veranstaltungskalender. Der späte April zeichnet sich durch die Wiedereröffnung der Snackbar aus, die den Namen NACKT & BLOSS (hier kannst Du essen, bis Du blank bist) trägt. Im Mai halten sie ein Golfcart-Rallye, verschiedene Lagerfeuer unter verschiedenen Mottos, ein großes Chili-Kochen und etwas, was sie «Reiten wie im Wilden Westen» nennen, ab.
Probiert Lidschatten an Kaninchen aus, wie ihr’s braucht. Schnallt Elektroden an die Schädel von Rhesusaffen und schockt sie, bis sie völlig benommen sind, aber es ist inhuman, einen FKK-Heini am Tag nach dem großen Chili-Kochen auf ein Pferd zu lassen. ( «War das immer schon ein Appaloosa?») Der Kalender ist mit rätselhaften Unternehmungen wie Nacktbowling, der «Penner-Party (inkl. Große Plörre)» und dem Nudeoween-Allerseelenball angefüllt. Das Restaurant wurde in der ersten Juniwoche eröffnet. Ein Nacktrestaurant. Sie scheinen so ziemlich an alles gedacht zu haben. Unter der Überschrift «Was ist mitzubringen?», zählen sie nur Handtücher, Sonnenschutz und ein Lächeln auf.
Gestern Abend hatte ich eine Stinklaune und provozierte Hugh zu einem Ehekrach. Ich stichelte weiter, bis er mit dem Ruf «Du bist ein großes, fettes, haariges Schwein!», aus dem Schlafzimmer stürmte. Mit groß kann ich leben. Fett ist eine Frage der Interpretation, aber mit haarig gekoppelt, beginnt vor dem geistigen Auge ein Bild zu entstehen, welches, mit dem Wort Schwein vereint, eine gehörige Tiefenschärfe gewinnt. Nun, Schweinen verdanken wir den Schinken und das Uhrarmband, und das ist doch schon was. Könnten sie mit ihren spitzen Hüfchen auf Knöpfe drücken und Hebel bedienen, wären sie lange vor den Affen in den Weltraum entsandt worden. Ein Schwein zu sein war gar nicht schlimm. Ich wischte mir einen Tropfen Rotz vom Rüssel, lag im Bett und tat mir herzlich leid. Wäre ich Nudist, hätten Hughs Worte mich beleidigt, da ich mich als das akzeptiert hätte, was ich bin. Es gab natürlich noch andere Möglichkeiten. Ich konnte zur Gymnastik traben und mich in Form bringen. Ein schönes Wort ist das, Gymnastik, aber unglücklicherweise ist es auch archaisch. Sie sind dahin, die Springseile und Medizinbälle meiner Jugend. Jetzt gibt es nur noch Health Clubs und einsilbige gyms, in denen schweißnasse, männlich-mannhafte Mannsbildmänner sich durch den Gebrauch von Maschinen mit Gewichten dran und künstlichen Treppenhäusern bis zur Unförmigkeit pflegen. Ich habe sie durch die Schaufenster der zahlreichen Fitness-Zentren der Stadt gesehen. In Kostümen, so eng wie Wurstpellen, schüchtern mich diese Männer und Frauen mit ihrer Jugend und Disziplin ein. Sie sind es, die sowohl das g als auch das h aus dem Wort light entfernt und es zu seiner jetzigen Form verschlankt haben. Jetzt ist alles «lite», von Mayonnaise bis Kartoffelchips, und das Wort als solches ist immer in grellen Farben gedruckt, damit man vom Lesen des Etiketts keine dicken Augen kriegt. Was mich betrifft, so kommen Diät und Turnübungen nicht infrage. Mein einziges Problem mit FKK ist, dass ich zu Hause nicht mal barfuß herumlaufe, geschweige denn nackt. Es ist Jahre her, seitdem ich zum letzten Mal am Strand das Hemd ausgezogen oder auch nur in Gegenwart von Fremden den Gürtel gelockert habe. Zwar sehne ich mich danach, Menschen nackt zu sehen, bin aber nicht sicher, ob ich schon so weit bin, selbst nackt zu sein. Vielleicht werde ich aus reiner Sorge ein paar Pfund abnehmen und als doppelter Sieger herauskommen. Je weniger ich von mir selbst akzeptieren muss, desto leichter wird es mir fallen. Ich spüre jetzt schon, wie mir der Appetit schwindet.
Heute Nachmittag ist es mir nach einem halben Dutzend misslungener Anläufe gelungen, in der Nudistenkolonie anzurufen, um eine Reservierung vornehmen zu lassen, und ich sprach mit demselben Burschen, der mir die Broschüre geschickt hatte. Diesmal konnte ich im Hintergrund Menschen hören, die planschten und vor Wonne schrien. Davon wurde mir leicht schwindlig und ich knöpfte mir die Hose auf. Die Broschüre hatte erwähnt, man könne Hütten mieten, und ich wollte wissen, wie viel eine Woche kostet.
«Sie wollen einen Anhänger für wie lange?», fragte er.
Ich knöpfte mir die Hose wieder zu. Ich hatte mir baumbeschattete Bungalows vorgestellt, in knorriger Kiefer getäfelt. Für mich ist das die Essenz des Wortes Kolonie.
Stattdessen handelte es sich um einen Campingplatz für nudistische Wohnwagen.
«Wir verwenden das Wort Kolonie nicht mehr, weil es zu fremdartig ist. Nein, wir haben Anhänger. Die kleineren Einheiten kommen dreißig Dollar die Nacht, aber wenn Sie eigene Küche und Badezimmer wollen, wäre ein Doppier für Sie das einzig richtige, und das käme dann zusätzlich siebzig Dollar die Woche.»
Er hatte mich schon viel früher verloren. Warum war das Wort Kolonie fremdartig, aber nicht das Wort Anhänger, von Nudist ganz zu schweigen?
«Ich kann Ihnen das Vorderschlafzimmer vom Doppier geben; das ist noch nicht gebucht.»
Vorderschlafzimmer ließ auf ein Hinterschlafzimmer schließen, welches, wie man mir sagte, separat vermietet wurde. «Sie könnten einen Wohngenossen haben; vielleicht ist es auch ein Paar. Die bleiben vielleicht eine Nacht, vielleicht zwei Nächte lang, oder vielleicht bleiben sie auch die ganze Woche. Da sind Sie dann wenigstens nicht einsam.»
Ich kämpfte immer noch mit der Vorstellung eines Anhängers, und als er einen möglichen Wohngenossen erwähnte, verschwamm die Vorstellung.
Ein Wohngenosse auf einem Zeltplatz ohne Zelte, aber mit nudistischen Anhängern. Die Kombination dieser Elemente präsentierte ein atemberaubendes Tableau, welches noch unverständlicher wurde, als ich hörte, wie der Mann seinen Telefonhörer schulterte und die Stimme hob: «Mutti! Hey, Mutti, wo ist die Liste mit den Wochentarifen für den Zwei-Schlafzimmer-Miet-Hänger?» Dieser Mensch stand nicht nur am helllichten Tag nackt herum, er tat dies auch noch mit seiner Mutter. Ich hörte, wie eine Fliegendrahttür zugeknallt wurde, danach die argwöhnische Stimme einer Frau, welche rief. «Brüll hier nicht so rum, du Schreihals. Suchst mal wieder die Wochentarife? Du sitzt wahrscheinlich wieder drauf, genau wie letztes Mal. Siehste, was hab ich gesagt! Puh, hier müsste mal jemand duschen.»
Ich machte meine Reservierung und plante, in einer Woche dort zu sein. Heute habe ich wieder auf dem Nudistenplatz angerufen und eine Frau ging ans Telefon. Als ich sie fragte, ob sie Laken und Kissen stellen, sagte sie: «Ja, aber keine Handtücher. Handtücher müssen Sie selbst mitbringen, denn das geht bei uns nicht. Bettzeug ja, Handtücher nein.»
Ich fragte, ob die Küche des Anhängers eingerichtet und ausgestattet sei, und sie erwiderte: «Irgendwie schon.»
Da ich eine Woche dableiben wollte, hoffte ich, sie würde deutlicher werden.
«Ja, irgendwie sind manche Sachen da und manche nicht.»
«Gibt es irgendwie einen Herd und einen Kühlschrank?»
«Ja, natürlich», sagte sie. Sie schien mit jemand anderem zu tun zu haben, war maulfaul und wollte weder reden, noch vom Telefon weg. «Es gibt da ein Waschbecken und wahrscheinlich ein paar Pfannen und so weiter, aber definitiv keine Geschirr- oder Handtücher; da müssen Sie schon Ihre eigenen mitbringen, weil wir nicht ständig deswegen auf- und abrennen können. Für so was haben wir einfach nicht die Zeit.»
Ich sagte ihr, das verstünde ich voll und ganz.
«Viele Leute glauben, wir haben einen schönen flauschigen Stapel Handtücher beim Pool, die sie privat verwenden können. Haben wir aber nicht. Nein, hier machen wir so was nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Handtücher sind etwas Persönliches und da müssen Sie dann schon Ihre eigenen mitbringen.»
Ich hatte verstanden.
«Natürlich kommt manchmal jemand vielleicht nur für einen Tag, und der vergisst dann aus Versehen sein Handtuch, aber das kommt bei uns in die Fundsachenkiste, falls er wiederkommt und es sucht. Man kann diese Handtücher nicht benutzen, weil sie nicht sauber sind und einem nicht gehören. Dieser jemand könnte ja eines Tages wiederkommen, um sein Handtuch abzuholen, und das fände er dann gar nicht komisch, wenn er reinkommt und sieht, dass Sie es ohne seine Erlaubnis benutzen. Das wäre nicht korrekt. Wenn es Sonnenschutz wäre, würde ich sagen: ‹Nur zu, benutzen Sie es; ich schmier Ihnen den Rücken ein›, aber Handtücher? Ausgeschlossen. Da müssen Sie Ihre eigenen mitbringen.»
Ich unterstrich das Wort Handtücher auf meiner Einpackliste und schrieb Fragezeichen hinter alles andere.
Ich kam heute am frühen Nachmittag auf dem Nudistenplatz an; der Taxifahrer fuhr bei Nieselregen vor dem Klubhaus vor. Er war während der ganzen Fahrt sehr nervös gewesen. «Ich will mir ja kein Urteil erlauben», hatte er gesagt. «Was soll’s, ich nehme alle Sorten mit, sogar Betrunkene. Der Schornstein muss rauchen, Partner.» Etwas an mir schien ihm unbehaglich zu sein, und ich ertappte ihn oft dabei, dass er mich im Rückspiegel studierte, wobei sein Blick sagte: «Lass deine Hände, wo ich sie sehen kann.»
Ich sammelte mein Gepäck ein und betrat ein niedriges Schindelgebäude, in dem fünf komplett angezogene Senioren saßen, die Arme um den Oberkörper geschlungen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Auf einem hoch an der Wand angebrachten Brett war ein Fernseher festgeschraubt und die Senioren sahen die Lokalnachrichten. Auf dem Bildschirm deutete ein Wettermann auf eine Landkarte, die mit stirnrunzelnden Sonnen bestückt war; den Arm hielt er, als zöge er einen schweren Vorhang hoch. Die Insassen des Raumes beugten sich auf ihren Stühlen vor, bissen sich vor Kälte in die Hand- bzw. Faustrücken und ächzten, wenn sie mit dem Wort Kaltluftfront konfrontiert wurden. Dann buhten sie den Wettermann aus. Sie verfluchten ihn und hieben auf die Tischplatten ein –, wie Sträflinge, die mit der Verpflegung unzufrieden sind. Der Raum war mit den dumpfen Schlägen des Protests erfüllt, als ich meinen Koffer abstellte und an den Empfangsschreibtisch trat.
«Das war er!» Ein älterer Mann zeigte mit krummem Finger auf mich. «Das Sauwetter hat er bestimmt von der Seenplatte hier eingeschleppt!»
«Sind Sie von der Seenplatte?», fragte die Frau hinter dem Empfangstisch. Ihre Mundwinkel hingen so tief herunter, dass sie unten die Kinnladen streiften. Mit zusammengekniffenen Lidern betrachtete sie meinen Koffer, als könne er jederzeit über den Fußboden toben, war er doch, wie es schien, mit Gewitterwolken und Winden vollgestopft, die der Jahreszeit nicht entsprachen.
«Ich weiß nichts von irgendeiner Seenplatte.» In meiner Stimme schwang wachsende Panik mit. «Als ich heute Morgen in New York losgefahren bin, war es heiß und sonnig, ehrlich. In der Nähe von Scranton wurde es kalt, aber ich bin nicht mal aus dem Bus gestiegen. Das ist die Wahrheit; Sie können den Fahrer fragen.» Es war lachhaft, vor einer Gruppe von Fremden zu stehen und meine Verantwortung für das Wetter zu bestreiten, aber von ihren strengen, anklagenden Gesichtern umgeben, schienen mir ihre Anwürfe beängstigend plausibel.
«Naja, morgen soll es aufklaren, aber wenn nicht, weiß ich, wo wir Sie finden.» Die Frau zeigte aus dem Fenster. «Es ist der Hänger mit den orangefarbenen Zierleisten. Vorderschlafzimmer; dafür habe ich Sie notiert.»
«Sie meinen den mit dem rostfarbenen Streifen?»
«Sie nennen es Rost, ich sage orange, aber Sie wissen ja, was gemeint ist. Das ist der mit dem Picknicktisch im Vorgarten. Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass es ein Picknicktisch ist?»
Ohne es zu wollen, hatte ich sie beleidigt.
«Ich habe diese Zierleiste selbst angemalt und auf dem Eimer stand ganz deutlich ‹Gedecktes Orange›. Wenn Rost› draufgestanden hätte, hätte ich ihn nie gekauft. Rostig sieht es nur unter den Wolken aus, die Sie mitgebracht haben. Sobald die Sonne scheint, sehen Sie die Farbe auch so, wie sie ist. Tut mir leid, dass ich jetzt nicht hinausrennen und die Zierleiste noch mal überstreichen kann, damit sie Ihren Bedürfnissen entspricht, aber ich habe auch noch anderes zu tun, ich habe auch noch andere Pflichten.»
Ich fragte, wo ich denn wohl den Schlüssel zu meinem Anhänger finde, und hörte ersticktes Gelächter aus allen Ecken des Raumes.
«Schlüssel!» Sie benahm sich, als hätte ich einen Gebetsteppich oder eine lebensgroße Buddhastatue verlangt. «Wir glauben hier nicht an verschlossene Türen, wir hier nicht. Vielleicht verbarrikadieren sich die Menschen da, wo Sie herkommen, hinter verschlossenen Türen, aber hier haben wir dafür keinen Grund.» Sie knallte die Ellbogen auf den Tisch und stützte ihr Gesicht zwischen den Fäusten. «Wir schließen unsere Türen nicht ab, weil wir, im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten, nichts zu verbergen haben.»
Das Klubhaus war mit Tischen und Stühlen möbliert. Neben dem Empfangstisch war eine kleine Küche, deren Durchreiche Packungen mit gefriergetrocknetem Rindfleisch und Kartoffelchips rahmten. Es gab einen Grill, eine Friteuse und ein Verzeichnis von Speisen für Frühstück und Mittagessen. Dies war eindeutig die Snackbar, aber wo war das Restaurant?
«Tagsüber Snackbar, abends Restaurant», sagte die Frau. «Aber nur samstags, wenn nichts anderes geplant ist.» Warum hatten die mir das nicht früher gesagt? Man hatte mir den Eindruck vermittelt, das Restaurant wäre jeden Abend geöffnet. Ich hatte mir nur eine Salami und eine Dose Cracker mitgebracht. Was sollte ich jetzt machen, ohne Auto?
«Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einen Hamburger aufbraten, aber da müssen Sie sich schon entscheiden. Die Snackbar schließt an Werktagen um dreizehn Uhr, außer es ist gutes Wetter oder gesetzlicher Feiertag; dann haben wir bis halb vier offen. An der Straße in die Stadt ist ein kleines Restaurant, aber die machen um drei dicht.» Sie zog kurz ihre Uhr zu Rate. «Wenn Sie jetzt losgehen, können Sie es wahrscheinlich noch schaffen, aber Sie hätten wirklich ein Auto mitbringen sollen. Für diesen Lifestyle braucht man ein Auto. Man braucht ein Auto und jede Menge Handtücher.»
Ich hatte nur die Wahl, mir ein Taxi in die Stadt zu nehmen und für eine Woche Lebensmittel einzukaufen. Wo mochte ich einen Münzfernsprecher finden?
«Draußen auf der Sonnenterrasse.» Die Frau wartete, bis ich die Fliegendrahttür erreicht hatte, um hinzuzufügen: «Aber er funktioniert nicht. Letzten Donnerstag hat das Gewitter das Telefon umgehauen und bisher ist noch keiner zum Heilmachen gekommen. Das ist hier draußen immer eine Riesenschinderei, bis man mal jemanden zum Reparieren kriegt. Unser Geld ist denen wohl nicht gut genug. Das meiste ficken wir ja selbst zusammen, aber das Telefon nicht. Heikle Sache, so ein Münztelefon. Sie können von meinem Telefon aus anrufen, aber Sie werden sich kurz fassen müssen; ich erwarte einen Anruf.»
Der Taxifahrer sagte, er könne mich in einer Stunde abholen, und ich fragte mich, wie viel es wohl bis ganz zurück nach Hause kosten würde. Dies hatte ich ganz und gar nicht vorgehabt. Kein Schlüssel, kein Restaurant, nur eine Handvoll Meckerfritzen, die über das Wetter stöhnten.
Ich ging den Kiesweg zu meinem Anhänger, der mit so viel Insektizid vollgesprüht war, dass meine Nasenhaare Locken kriegten. Rosinengroße Fliegen lagen keuchend auf der Tischplatte, Beinchen in die Höh’, mit denen sie mir in Zeichensprache folgende Worte übermittelten: «Nichts wie weg hier, schnell, solang du noch kannst.» Ich stellte meinen Koffer ab und floh, trabte am Klubhaus vorbei zur durchgeweichten Volleyballanlage. Der Swimmingpool aus der Broschüre war mit einer Plane abgedeckt, genau wie die Whirlpool-Wanne. Sogar die Fahne war auf Halbmast.
Das Wohnzimmer meines Anhängers ist mit künstlichen Walnussplanken getäfelt und die niedrige Decke aus Fiberglas-Ziegeln hat Wasserflecken. Ein Linoleumfußboden trennt die Kochnische von der Auslegware des Wohnzimmers, welches mit einem ausgemergelten Goldsamtsofa und zwei dazugehörigen Sesseln möbliert ist, die einen Ausblick auf ein Beistelltischchen bieten, dessen Platte von einem – inzwischen abwesenden – Fernseher abgewetzt ist. Zwei der Wände sind mit Fenstern ausgestattet, und die dritte trägt einen großen schmückenden Wandteppich, auf dem eine Familie von Eisbären abgebildet ist, die sich auf einer Eisscholle drängt. Mein Schlafzimmer ist, genau wie das meines potentiellen Mitbewohners, zellenähnlich klein und karg und nur mit Bett und Kommödchen ausgestattet, klein genug, das Wenige, was ich mitgebracht habe, zu fassen. Als ich ausgepackt und meine Lebensmittel verstaut hatte, war es früh am Abend, und es hatte aufgehört zu regnen. Nachdem ich die Stelle angestarrt hatte, an der der Fernseher sonst gestanden hatte, machte ich einen Spaziergang, wieder am Klubhaus vorbei, in die etablierteren Gefilde des Geländes. Dies waren Wohnwagen, die solide auf sorgsam manikürten Rasenstücken siedelten, viele mit angebauten Terrassen aus Kiefer und Redwood. Einige Hänger waren so verkleidet, dass sie Blockhütten ähnelten, andere hatten geschindelte, mit einem A-förmigen Rahmen versehene Eingangshallen. Die Namen der Eigenheimeigentümer waren auf Holztafeln verzeichnet, oft zusammen mit einem kleinen Wahlspruch wie «Dem Reinen ist alles rein, dem Nackten ist alles Akt» oder «Willkommen in der Villa Splitternackt!», Blumenbeete waren mit Holzsägearbeiten markiert, die winzige nacktärschige Kinder zeigten, und die Schattenrisse wohlgeformter nackter Frauen waren an die Türen von Geräteschuppen gemalt und genagelt wie sonst wo ZU VERKAUFEN-Schilder an Bäume. Fast alle schienen eigene Golfmobile in der Einfahrt stehen zu haben und auch diesen hatte man mit Aufklebern und handgemalten Slogans einen persönlichen Touch verliehen. Ich kam an einem Schild vorbei, auf dem ACHTUNG SCHAFE stand, und gleich danach kam ein Hänger, dessen Rasen für eine Herde aus künstlichen Schafen samt einer übergroßen Puppe mit Häubchen und Krummstab den Gastgeber spielte. Die Zeit war weder zur Schäferin, noch zu ihren Schützlingen nett gewesen, deren triefende Wolle mit ihren Flecken von einem langen und unbarmherzigen Winter zeugte. Weiter die Straße entlang schreitend, sah ich, wie die Eigenheime Zelten und Hängern mit aufklappbaren Dächern und Hilfsbaldachin-Takelagen aus Plastik mit einer Front aus Moskitonetzen wichen. Der Platzmangel hatte Küchen wie Badezimmer nach draußen gezwungen, und die Vordergärten boten Außenklos und Picknicktischen ein Heim, die wiederum von Kühlkästen und Grills umgeben wurden, über denen sich festliche Papierlaternen rankten. Eine Anhängertür wurde geöffnet, eine junge Frau trat heraus, die ein Kind an der Hand hielt, welches ihr mit einem Holzlöffel gegen die Beine schlug. Die Frau trug oben ohne, und ihre Brüste hingen wie zwei halblange Socken, jede mit einer einzelnen Apfelsine beschwert. Als ich unterschrieb, wusste ich, dass ich bloßer Brüste ansichtig werden würde, da dies aber mein erstes Paar war, reagierte ich alarmiert. Sie trug das Haar in verwahrlosten Zotteln, schalt kurz das Kind, sammelte es dann in ihre Arme und begrub ihre scharfgeschnittenen Züge in dessen Magengegend. Oben ohne. Sie war oben ohne und ging durch die Straßen dessen, was auf ihren Stadtteil hinauslief. Der Junge heulte vor Vergnügen und hieb ihr dann mit seinem Löffel über den Schädel.
«Das ist das Alter», sagte die Frau, ich nickte zustimmend und tat, als entsönne ich mich des ersten Mals, da ich meine Mutter vor unserem Wohnwagen an der Brustwarze gezupft. Ich sah ihr ins Gesicht und versuchte krampfhaft, nicht ihre Brüste anzustarren. «Jaja, na gut», sagte ich. «Na dann, okay.»
Auf dem Rückweg zu meinem Hänger bekam ich hinter erleuchteten Fenstern verschiedene Nudisten zu sehen, die Geschirr spülten oder sich eines stillen Abends daheim erfreuten. Die Vorhänge weit offen, die Türen nicht abgeschlossen, saßen sie breitbeinig da und lachten bei den Situationskomödien im Fernsehen in sich hinein. Ein Auto kam mir entgegen, am Steuer ein pfeiferauchender hemdloser Mann. Als er vorbeifuhr, spähte ich auf den Fahrersitz hinunter und sah, dass er nackt war. Er hob seine Pfeife zum Gruß und fuhr weiter. Wohin, fragte ich mich, fuhr er? Fuhr er im Kreis, um Dampf abzulassen? Oder wollte er das Gelände verlassen und auf die Autobahn?
Ich brauchte ein paar Drinks, bevor ich in der Lage war, Hemd und Schuhe auszuziehen –, nachdem ich die Vorhänge meines Doppelhängers zugezogen hatte. Der Tisch war mit Bierdosen übersät, als ich schließlich aus der Unterhose stieg und mit den Vorbereitungen fürs Abendessen begann, wobei ich mir heftig einzureden versuchte, es sei ganz natürlich, Schweinekoteletts nackt zu braten. Während sie vor sich hin brutzelten, tat ich, als wäre mein Mitbewohner gerade gekommen. «Du kommst genau rechtzeitig», sagte ich und nahm zwei Teller aus dem Geschirrschränkchen über mir. «Setz dich; das Abendessen ist in ein paar Minuten fertig. Stör dich nicht an den Bierdosen; ich hab sie beim Nachbarn aus dem Müll gezogen, weil ich mir gedacht hab, ich stopf sie, wenn ich wieder mal in die Stadt fahre, rasch in die Recycling-Tonne. Ich persönlich rühr das Zeug ja nicht an, aber du weißt ja, wie ich bin, immer noch die alte ‹Öko-Trine›. Ich führ dich mal eben kurz herum.» Ich zeigte meinem unsichtbaren Gast gerade das hintere Schlafzimmer, als der Rauchmelder losging. Das betäubende, hohe Quieken löste bei mir Panik aus, und bevor ich darüber nachdenken konnte, fuchtelte ich bei offener Tür mit einem Geschirrtuch, um den Qualm zu vertreiben. Nackt. Ich war betrunken und nackt und die ganze Welt konnte es sehen. Das war ein ernüchternder Gedanke, der mich immer noch beschäftigte, als ich mich zu meinem geschwärzten Mahl niederließ.
Es hat begonnen zu donnern und Regen trommelt auf das Metalldach meines Anhängers. Zehn Uhr, und, soweit ich sehen kann, sind überall für heute die Lichter aus. Inzwischen habe ich die Platzordnung durchgelesen, die mir die Empfangsmatrone ausgehändigt hat.
Betragen …: Wir sind ein Familiengelände und erwarten, dass Ihr Betragen die moralischen Erfordernisse eines Freizeitgeländes für die ganze Familie widerspiegelt.
Handtücher …: Führen Sie ständig ein Handtuch bei sich und bitte SETZEN SIE SICH AUS HYGIENISCHEN GRÜNDEN AUF IHR HANDTUCH.
Handtücher. Plötzlich bekam es einen Sinn. Ich bemerkte das breite Sortiment kurzgelockter Haare neben mir auf dem Sofa, sprang auf und holte mir ein Handtuch, welches von nun an meine Kehrseite nicht mehr verlassen sollte. Fotograferen …: Kameras und Videorecorder dürfen nur nach vorheriger Sondergenehmigung der Lagerleitung auf das Gelände mitgeführt werden. FOTOGRAFISCHE AUFNAHMEGERÄTE, DIE VON DER LAGERLEITUNG NICHT GENEHMIGT WURDEN, WERDEN EINGEZOGEN. Von Personen, die fotografiert werden, MUSS eine vorherige schriftliche Genehmigung VORLIEGEN.
Tiere …: In den allgemein zugänglichen Sonnenbadbereichen sind keine Tiere zugelassen. Sie sollten sich ständig unter Ihrer unmittelbaren Aufsicht befinden. Sie müssen hinter Ihrem Tier saubermachen und allen Kot entsorgen.
Alkohol …: Alkoholische Getränke dürfen nur mit Maßen konsumiert werden. Rauschzustände sind auf dem Gelände nicht gestattet.
«Benimm» am Swimmingpool …: DUSCHEN SIE MIT SEIFE, bevor Sie sich in Schwimmbecken oder Whirlpool begeben. KINDER, DIE NOCH NICHT AUFS «TÖPFCHEN» GEHEN KÖNNEN, SIND VON DER BENUTZUNG DES SCHWIMMBECKENS UND DES WHIRL-POOLS AUSGESCHLOSSEN.
Kleidung …: Wir ziehen uns an oder aus, um uns behaglich zu fühlen. Wenn Sie unsere Freizeiteinrichtungen benutzen, MÜSSEN SIE NACKT SEIN. INTIMBEKLEIDUNG, BADEANZÜGE ODER -HOSEN UND INTIMER KÖRPERSCHMUCK GEHÖREN NICHT AUF UNSER GELÄNDE. IN BECKEN UND WHIRLPOOL SOWIE UNTER DER DUSCHE MÜSSEN SIE NACKT SEIN.
Was, fragte ich mich, mochten Intimbekleidung und intimer Körperschmuck sein? Verliert das Wort nicht an Bedeutung, wenn alle nackt sind?
Es ist bestimmt gegen die Hausordnung, aber ich kann diese Andeutung sexueller Erregung einfach nicht abschütteln. Es ist keine Erektion, nur ein leichtes Kribbeln in der Eichel. Außerhalb der Badewanne oder wenn ich mal zum Arzt gehe, bin ich nur nackt, wenn es mir gelungen ist, jemanden zum Beischlaf zu überreden. Jetzt sitze ich hier mit nichts an und erwarte, dass ein Typ aus dem Badezimmer kommt und sagt: «Also wie willst du dein Preisgeld anlegen?» Es ist albern, so in meinem Anhänger herumzuwandern, und mir wird klar, dass es lange meine Gewohnheit war, mir das T-Shirt über die Knie zu ziehen, wenn ich allein am Tisch hockte. Auch habe ich die Angewohnheit, mir die Hose bis über den Nabel hochzuziehen und meinen Gürtel eng zu schnallen, damit man den Bauch nicht so sieht. Mit den Schlüsseln in der Hosentasche klimpern, zerstreut am Hemdkragen nagen: vorbei. Heißer Kaffee ist gefährlich, und während der letzten Stunde musste ich bereits zweimal aufspringen, um glühende Asche von dem zu wischen, was einst mein Intimbereich gewesen war.
Als ich heute Morgen aufwachte, war der Nebel so dick, dass ich den Picknicktisch in meinem Vorgarten nicht sehen konnte. Vom Himmel bis auf den Erdboden war alles von genau derselben Grautönung. Erst gegen Abend klarte es endlich auf. Gegen sechs sah ich aus dem Fenster und erblickte ein nacktes Paar, welches, Tennisschläger in Händen, durchs Gelände stolzierte. Der Mann trug die Haare hinten lang, hielt sich, als hätte er einen todschicken Anzug an, und legte eine zuversichtliche und zielstrebige Gangart vor, während die Frau mit Mützenschirm ohne Mütze, Socken und Turnschuhen hinter ihm her trabte. Dies waren die ersten aktiven Unter-freiem-Himmel-Nudisten meines Lebens, weshalb ich mir Klamotten überwarf und ihnen bis zum Pavillon folgte, wo ich ein Buch aus der Tasche zog und tat, als läse ich. Der Mann hatte einen ausladenden Bauch und einen breiten Grübchenarsch, und alles wabbelte und schwabbelte mit, während er auf dem Platz herumsprang und versuchte, den Aufschlag seiner Partnerin zu parieren. Sie hatten nicht länger als fünf Minuten gespielt, als er sich mit den Händen auf die Knie stützte, einen Mundvoll Galle aufs Gras entließ und die Faxen dicke hatte. Sie verließen den Platz, und ich folgte ihnen ins Klubhaus, wo der Mann die Toilette aufsuchte, von welcher er zehn Minuten später mit einem leuchtend roten Ring um den Arsch zurückkehrte. Hier, dachte ich, haben wir einen echten Nudisten. Ein Fetzchen Klopapier, nicht der Rede wert, pappte ihm am Hintern, und als die Frau ihn darauf hinwies, fuhr er sich mit der Hand über die Kimme und zuckte beiläufig mit den Schultern, als spielte das keine größere Rolle als ein Tupfer Mayonnaise an der Lippe.
Ich versuchte meinen Tag nackt zu beginnen, schaffte es aber nicht weiter als bis zu meinem Picknicktisch, kehrte daraufhin in meinen Anhänger zurück und warf mich in ein T-Shirt, das mir bis halb über die Oberschenkel ging. Dann schaffte ich es bis am Pavillon vorbei, wo ich auf eine Gruppe älterer Männer und Frauen stieß, die um einen Kiesplatz versammelt standen. Es war später Vormittag, und ich hatte den Eindruck, dass gleich etwas Wichtiges beginnen sollte. Eine Frau beugte sich vor, um den Kies zu harken. Sie trug ein kurzärmeliges Hemd, aber keinerlei Beinkleider, und ihr Arsch war eine Landschaft aus Pocken und Runzeln; die blauen Adern, die ihre Oberschenkel kreuzten, sahen aus wie eine Landkarte für Binnenschiffer. Auf einer nahen Bank saßen zwei weitere Frauen, beide im T-Shirt. Eine trug einen Mützenschirm ohne Mütze, während die andere die Art Häubchen bevorzugte, die ich mit den Milchmädchen von einst in Verbindung bringe. Es war dies eine gerüschte Vorrichtung mit breiter Krempe, unter dem untersten ihrer mehreren Kinne mit einem Bändsel zusammengebunden. «Howdy», sagte sie. «Hey, seht mal alle her, wir haben frisches Blut reingekriegt!»
«Ah, ein neues Gesicht. Genau, was wir brauchen, damit das Spiel interessant bleibt.» Der Sprecher war ein tiefgebräunter Herr, nackt bis auf ein Golfhütchen, an dem er den Schlüssel zum Gerätespind festgepinnt hatte. «Hast du schon mal pétanque gespielt?» Er legte mir die Hand auf die Schulter und führte mich zum Platz. «Das ist der französische Cousin des italienischen boccia. Stan Friendly und seine Frau haben das unten in Florida immer gespielt, und als sie es mit nach Norden brachten, haben wir alle gesagt: ‹He, was ist das denn für ein Spiel?› Wir spielten damals alle Volleyball und dachten, diese pétanque-Spieler wären übergeschnappt, stimmt’s, Frank?»
«Ja, wir dachten, sie spinnen», sagte Frank. Er kratzte sich beide mückenstichigen Gesäßhälften und schloss sich uns auf unserem Weg zum pétanque-Geviert an. «Jetzt sagen wir: ‹Zur Hölle mit dem Volleyball!›, und spielen dreimal täglich pétanque. Ein großartiges Spiel; du wirst schon sehen. Hey!», rief er. «Gebe doch mal jemand unserem Freund zwei Kugeln. Wir haben einen neuen pétanque-Spieler.» Seltsam war’s, die verschiedenen Stadien der Entblößung zu beobachten und wie während des Spiels Kleidungsstücke über den Platz verteilt wurden. Wie ich waren Jacki und Carol in T-Shirts gekommen, während Bill, Frank und Celeste nur Kopfbedeckungen trugen. Phil und Millie fuhren im Trainingsanzug an, den sie sofort ab- und auf den Klamottenhaufen auf dem Picknicktisch legten. Ein Mann namens Carl trug Hemd und Weste, passend zu seinen schwarzen Socken und sinnvollen Schuhen, wodurch der Eindruck entstand, er vertreibe sich nur ein wenig die Zeit, während seine Hose und Unterhose trockengeschleudert wurden.
Bill, der Mann mit dem Golfhütchen, hatte eine lange Narbe, die, zwischen den Schulterblättern beginnend, bis zu seinem rechten Unterarm hinunter kurvte. Die Wunde musste einst auf gleicher Höhe mit der Haut gewesen sein, doch nun ähnelte das straffe, glatte Narbengewebe einer schmalen Straße, zu beiden Seiten von kargen, bernsteinfarbenen Hügeln überragt. Franks Körper dagegen war ein regelrechter Bankautomat, bei dem Chirurgen routinemäßig von Rücken, Brustkorb und Bauch Abbuchungen vornahmen. Er warf eine kleine Holzkugel auf den Platz, erklärte, sie solle fortan unser Ziel sein, und händigte mir dann etwas aus, was aussah wie eine Krocketkugel, aber aus einem Metall gefertigt war, als sollte es aus einer Kanone abgefeuert werden. Er nahm sich selbst auch eine Kugel, bestieg eine Zementplatte am Rand des Spielfelds, kniff ein Auge zu und hielt die Kugel wie Hamlet, als dieser Betrachtungen über den Schädel seines verbliebenen Hofnarren anstellte. Weil er nackt war, mutete seine Haltung merkwürdig heroisch an, als stünde er Modell für eine Statue, die an die geriatrische Abteilung eines auf Sportmedizin spezialisierten Krankenhauses gemahnen sollte. Dann holte er ohne Warnung rückwärts aus, ließ zur Übung beide Arme mehrmals kreisen und dann die Kugel los, welche durch die Luft segelte und mit dumpfen Plumps zwei Zoll vom Ziel entfernt landete.
«Und jetzt du, Dave.» Meine Kugel ging um gute sechs Fuß fehl.
«Guter Wurf!», sagte Frank. «Sag mal, Bill, hast du das gesehen? Sieht aus, als hätten wir es hier mit einem Naturtalent zu tun. Und gleich noch einmal, junger Mann.»
Meine zweite Kugel verfehlte das Spielfeld vollends und landete im feuchten Gras. Das war eindeutig schlecht, genau wie mein nächster Wurf, genau wie mein übernächster Wurf. Jeder Versuch trug mir jedoch die gleiche Reaktion ein: «Guter Wurf!» Entweder waren ihre Augen vom grauen Star getrübt, oder diese Leute waren tatsächlich von einem Sports- und Kameradschaftsgeist beseelt, wie ich ihn noch nie angetroffen hatte.
Die Partie zog sich endlos hin und ihre Einzelheiten wurden leidenschaftlich diskutiert. Oft erhob sich eine Debatte darüber, wessen Kugel dem Ziel am nächsten gekommen war. «Ich glaube, es ist die von Carl, aber wir sehen lieber mal nach. Es scheint ganz so, als läge sie mit der von Phil Kopf an Kopf.» Ein Bandmaß wurde herbeigetragen und sanft und mit großer Ehrfurcht überreicht, als könnte es ein und für allemal den Gottesbeweis erbringen. Die Mannschaftskapitäne hockten sich auf ihre Fersen, ihre Hoden wippten auf dem Kies. «Die von Carl ist achtdreiviertel Zoll weit entfernt und die von Phil … Was sagt ihr nun!? Achtneunsechzehntel! Sieht aus, als ginge dieser Punkt an die Mannschaft von Phil!»
Die Ödnis des Spiels gestattete mir, den Umstand zu vergessen, dass ich nur T-Shirt und Turnschuhe anhatte. Zuerst hing ich an den äußersten Rändern des Spielfelds herum und sammelte meine Kugeln auf wie eine Gräfin mit weißer Perücke, immer so nah wie möglich am Boden, als schritte gerade die Königin durch die Gärten. Jetzt dachte ich kaum noch daran. Keinen scherte es, wie mein Arsch aussah. Sie dachten an pétanque und an nichts anderes, bis ich mir eine Zigarette anzündete, und meine Mannschaftskameraden mich baten, sie auszumachen. Man konnte im Freien nackt sein, aber offensichtlich konnte man im Freien nicht rauchen. Was soll denn das für einen Sinn haben?
Wenn ich aus meinem Schlafzimmerfenster blicke, kann ich das Klubhaus und den dazugehörigen Parkplatz sehen. Heute Nachmittag sah ich, wie ein großer, von einem nagelneuen Viertürer mit Nummernschildern aus einem anderen Bundesstaat gezogener Wohnwagen eingeparkt wurde. Aus dem Auto stieg ein komplett nackter Mann. So war er offensichtlich auch schon auf der Autobahn gefahren. Ich glaube, er konnte es einfach nicht abwarten.
Heute Abend bin ich zum Fernsehen ins Klubhaus gegangen, und nachdem ich dort zwanzig Minuten lang allein gesessen hatte, kam Jacki, die Frau mit dem Häubchen vom pétanque-Platz, nackt aus dem Waschraum herein gelatscht und fragte, ob ich Lust hätte, mit in die Sauna zu kommen. Ich war noch nie in einer Sauna gewesen und wusste nicht recht, was damit einherging. Brauchte ich ein Stück Seife?
«Ein Handtuch, du Dummerle. Alles, was du brauchst, ist ein Handtuch. Jetzt runter mit den Klamotten und raus hier. Ich er- warte dich.»
Weil das als Befehl vorgetragen wurde, schien jede Debatte zwecklos. Früher oder später musste ich sowieso nackt auftreten, warum also nicht jetzt. Ich rannte zurück zu meinem Anhänger, schnappte mir ein Handtuch, ließ die Hose runter, überlegte, ob ich mir noch rasch meinen Arsch im Spiegel ansehe, wusste aber, dass ich, wenn ich das tat, nie mehr vor die Tür gehen würde. Denk nicht drüber nach, denk nicht drüber nach, denk nicht drüber nach. Ich tupfte mich der Vollständigkeit halber mit einem Waschlappen ab und kehrte zum Klubhaus zurück, wo ich mich im Waschraum auszog. Dann faltete ich meine Klamotten zusammen und legte sie ordentlich auf irgendeine ebene Fläche. Das ist ganz normal, dachte ich, das ist hier ein Badezimmer. Es ist natürlich, in einem Badezimmer nackt zu sein. Es war jedoch weniger natürlich, das Badezimmer zu verlassen und an den Tischen und Stühlen eines Klubhauses vorbeizugehen. Andere Menschen hatten nicht die geringsten Probleme damit und seht sie euch an! Jacki war wie nichts herein- und auch wieder hinaus geschneit, und ich hatte sie angesehen, als wäre sie eine Ziege, die sich in eine Hotelempfangshalle verirrt hatte. Am Nachmittag hatten es die Tennisspieler geschafft. Tausende von Menschen waren nackt durch diesen Raum gegangen, hatten zu Mittag gegessen und Karten gespielt. Jetzt war ich an der Reihe! Ich versuchte es als Privileg zu betrachten, und als das nicht klappte, warf ich mir das Handtuch über die Schulter, schloss die Augen und rannte schnurstracks gegen den Bücherschrank.
Die Sauna, eine gedrungene Holzhütte, war neben dem Schwimmbecken. Durch ein Vorzimmer, in dem man erstickte, gelangte man in ein von einem rauchlosen, mit weißglühenden Steinen beheiztes Höllenloch, in dem man dann endgültig verreckte. Jacki saß auf einem hölzernen Bord, moppte am Schweiß, der ihr die Brüste hinunter- und über den beträchtlichen Bauch lief, bis er sich unter ihrer kindlich wirkenden rasierten Vagina zu einer Pfütze sammelte. Sie war eine mollige Frau, stramm wie ein Matratzenbezug, und ihr Kopf hielt sich ohne erkennbaren Hals auf den Schultern.
«Eine böse Beule hast du da auf der Stirn, Dave. Du solltest dir etwas Eis drauf tun, bevor du heute Abend ins Bett gehst.» Sie zielte mit einer Spritzfasche auf den Kessel, ließ einen duftenden Wasserstrahl frei, und die Kammer wurde noch heißer. «Magst du das?», fragte sie. «Das ist Eukalyptus. Wenn Barb da ist, darf ich das nicht benutzen, weil sie allergisch ist. Da schwellen ihr die Backen im Gesicht an, als wären sie mit Watte gepolstert. Du bist nicht allergisch, oder? Sonst rennst du nämlich lieber, solang du noch kannst. Ich hab mir vor ein paar Jahren den Rücken durcheinandergebracht und kann jetzt keine Katze mehr tragen, geschweige einen ausgewachsenen Mann. Ich kann höchstens zum Klubhaus gehen und Hilfe holen, aber selbst das dauert seine Zeit. Bis ich zurück bin, kannst du dann schon tot sein …; also entscheide dich: Bist du allergisch oder nicht?»
Ich war nicht allergisch.
«Gut!» Wieder zielte sie mit ihrer Flasche auf den Hochofen.
«Spürst du das? Eukalyptus ist eine Heilsalbe, im alten Griechenland und Ägypten der große Renner. Es hat Sokrates und König Ramses dem Zweiten die Nebenhöhlen geöffnet, damit sie sich auf die wichtigeren Dinge konzentrieren konnten wie … Demokratie und Schlangen. Macht den Geist frei, Eukalyptus. Mir kommen hier in der Sauna die wildesten Gedanken, kann ich dir sagen! Gedanken wie, na, was wäre, wenn jeder auf der Welt einen Wunsch frei hätte, aber man muss, damit er in Erfüllung geht, bis an sein Lebensende auf Händen und Knien herumkrabbeln? Eine harte Nuss, was? Wenn man sich Reichtum wünscht, muss man auf allen vieren durch seinen Palast krabbeln, und der Nerzmantel schleift hinterher. Was darfs denn sein? Den Weltfrieden; ein Mittel gegen Krebs; dass Hunger und Elend ein Ende haben; was wünschst du dir?»
Der Eukalyptus hatte meinen Geist offensichtlich nicht so freigemacht wie ihren. Trotzdem war es mir, sobald die Frage aufgeworfen war, nicht mehr möglich, nicht an sie zu denken. Wenn ich Gesicht und Körper meiner Träume hätte –, was würden sie mir nützen, wenn ich wie ein Tier gehen musste? Vielleicht, wenn ich mir wünschte, glücklich zu sein, wäre mir das Krabbeln egal –, aber was für ein Mensch wäre ich, wenn ich von Natur aus glücklich wäre? Ich habe solche Leute in Erbauungssendungen gesehen und sie machen mir Angst. Warum musste ich überhaupt darüber nachdenken? Ich sah in Jacki‘s rundes, glänzendes Gesicht. Die Hände hatte sie über dem Bauch gefaltet wie ein verhutzelter, geduldiger Flaschengeist. «Wenn ich einen Wunsch freihätte, würde ich mir eine unbegrenzte Menge von Wünschen wünschen», sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf auf eine Weise, die andeutete, dass sie diese Antwort bereits unzählige Male gehört hatte. «Nun werd nicht gierig, Dave, du hast nur einen Wunsch.»
Der Raum füllte sich mit Dampf, und benommen, wie ich war, kam mir in den Sinn, dass diese Frau vielleicht tatsächlich irgendeine modrige übernatürliche Kraft besaß. Die Begleitumstände waren so bizarr, dass sie vielleicht ausgesandt worden war, um meine eine, wahre Sehnsucht wahrzumachen. Ich dachte daran, mir meine Mutter zurückzuwünschen, aber solche Wünsche haben oft einen Haken. Wenn ich um meine Mutter bat, bekam ich vielleicht eine Urne voll redender Asche, die sich bitter über den Anblick ihres Sohnes beklagte, der wie ein Bluthund durch den Raum jachterte. Krankheiten zu heilen ist eine nette Idee, aber wenn wir alle einen Wunsch hatten, war bestimmt längst irgendein schlauer Vierzehnjähriger draufgekommen. «Ich würde mir wünschen», sagte ich, «fliegen zu können.»
«Nicht schlecht.» Jacki kratzte einen Mückenstich am Oberarm und seufzte: «Ich muss übers Wochenende weg und freue mich überhaupt nicht darauf. Wenn ich könnte, würde ich das ganze Jahr hier wohnen, aber mein Wohnwagen ist nicht winterfest, und mit meinem schlimmen Rücken kann ich die Einfahrt gar nicht freischippen. Es ist schon so weit mit mir gediehen, dass ich es überhaupt hasse, nicht hier zu sein. Am Wochenende muss ich zu einem Kirchen-Benefiz nach Hause und am Dienstag muss ich zum Geburtstag meiner Enkelin. Gell, da staunst du! Das sagt fast jeder, dass ich für eine Großmutter zu jung aussehe, aber sei dem nun, wie ihm wolle, ich habe drei wunderschöne Enkelkinder, und sie fanden es hier ganz toll.»
Schon, schon, aber was wurde aus meinem Wunsch? War die Frage ein Trick gewesen, um meinen Charakter zu testen? Warum sprach sie über ihre Enkel und wo waren meine Klamotten?
«Als ich sie zum ersten Mal hierher mitgebracht habe, haben sie Cliff Shirley gesehen, der am Schwimmbecken stand, und gesagt: ‹Oma›, haben sie gesagt, ‹warum hat der Mann denn gar nichts an?› Und ich hab ihnen gesagt: ‹Der Mann ist ein ganz besonders guter Freund von eurer Oma, und er ist nackt, weil Gott ihn so auf die Welt gebracht hat. Hier darf man nackt sein, aber erzählt das ja nicht euren Freunden in der Schule und schon gar nicht eurer Mutter und eurem Vater.›» Sie blickte stirnrunzelnd auf ihre Brüste. «Ich hätte wissen müssen, dass sie kein Geheimnis für sich behalten können. Meine Tochter ist genau wie alle anderen. Sie glaubt, wir wären eine sexbesessene Meute, die auf dem Parkplatz wüste Orgien feiert. Und meinen Sohn kann man sowieso vergessen. Dem sage ich nur, dass ich im Sommer zum Camping fahre.»
Ich fand, ich musste ihr mein Mitgefühl aussprechen, wusste aber überhaupt nicht, wo ich anfangen sollte. Stattdessen bat ich sie, mir die Regelung mit dem Körper- und Intimschmuck zu erklären.
«Kleidungstechnisch meinen sie damit Lederriemen und Negligés, alles, was auffällig oder suggestiv sein könnte. Und was den Schmuck betrifft, da sind Ringe und Halsketten und so weiter schon in Ordnung, da wollen sie nur nicht … Gott, wie soll ich das ausdrücken … Da wollen sie eben nicht, dass … Also, wenn man Ohrringe hat, dann sollten die in den Ohren stecken, verstehst du? Es verstößt gegen die Hausordnung, sich die … äh … Dingelchen piercen zu lassen, sowohl oben als auch da … unten.»
Ich fand es merkwürdig, dass ihr das Thema solches Unbehagen bereitete. Südlich ihrer rasierten Vagina sammelte sich der Schweiß, und diese Großmutter konnte nackt neben einem wildfremden Mann sitzen, aber ums Verrecken nicht die Wörter Brüste oder Penis aussprechen. Wir alle hatten einfach «Dingelchen» und meins siedete in meinem Schoß wie eine gekochte Garnele. Dadurch wurde die Anzahl der Gesprächsthemen drastisch reduziert. Die Abwesenheit von Kleidung erschwerte die Beschreibung von Personen. Man konnte nicht fragen: «Wer ist der unbeschnittene Herr mit dem behaarten Arsch?» Noch schwerer wurde es dadurch, dass fast alle Männer kahl waren, sodass man sie nicht einmal anhand einer Frisur beschreiben konnte. Ich befragte Jacki nach einem Mann, den ich beim voll beschickten Fischteich gesehen hatte: «Das war ein eher großgewachsener Mann mit einem … freundlichen Gesicht und einem blauen Handtuch.»
«Weiter», sagte sie. «Viele Männer haben blaue Handtücher.»
«Er hatte weder Schnurrbart, noch Mütze, noch überhaupt Haar. Er war so etwa in den Siebzigern.»
«Große Narbe quer überm Bauch und noch eine lange am Bein? Ach, das ist Dan Champion von Parzelle 16. Netter Mann, war früher ein großer Tänzer.»
Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass es gesellschaftlich akzeptabel war, Menschen anhand ihrer Narben zu beschreiben. Das war viel leichter als die Identifkation qua Sandalen.
Alle paar Minuten beugte Jacki sich vor, um einen weitern Strahl Wasser mit Eukalyptusgeschmack auf den Kessel abzuschießen, und ich war zu schwach, um ihr Einhalt zu gebieten. Durch meinen Schweiß sah ich nur noch verschwommen, und der Raum war so unerträglich heiß geworden, dass ich praktisch hören konnte, wie das Blut in meinen Adern Bläschen machte. Mir fiel ein, dass ich sterben würde – nicht zu irgendeinem fortgeschrittenen, hypothetischen Zeitpunkt in meinem Leben, sondern jetzt sofort. Mein Herz war gedünstet, und ich hatte so viele Liter Schweiß abgesondert, dass mein Handtuch jetzt mehr wog als ich.
«Hinaus mit dir», sagte Jacki. «Los jetzt, schnell. Zisch ab.» Ich verließ die Sauna, breitete mein Handtuch aus und legte mich auf den Zementboden neben dem Swimmingpool. Es war ein klarer Abend, kühl, aber die Luft fühlte sich gut an. Ich hörte, wie eine Tür geknallt wurde, und sah Jacki, die zum Klubhaus zurückwatschelte. Sie sah mich nicht, und ich sah keinen Sinn darin, sie zu rufen. Ich kam allein zurecht, lag fein nackt auf dem Boden und dachte über alles nach. Von weither kam ein jammervoller, muhender Laut, den ich nicht genau identifzieren konnte. Weder ganz natürlich, noch von Menschenhand gemacht, klang es wie eine Kombination aus kranker Kuh und Nebelhorn. Ich hatte es gestern Abend etwa um die gleiche Zeit gehört und es war höchstwahrscheinlich der ortsübliche Zapfenstreich.
Wegen des schönen Wetters war die Plane vom Schwimmbecken entfernt worden, welches von gemütlichen Liegestühlen umgeben ist, von denen einige unter einem Schild mit der Aufschrift BEHINDERTENPARKPLATZ stehen. Es ist ehernes Gesetz, dass man nicht nur im Schwimmbecken, sondern auch um das Schwimmbecken herum nackt sein muss. Das fand ich ziemlich hart. Ich hatte nur T-Shirt und Turnschuhe an, aber diese Dinge bedeuteten mir unendlich viel, denn ohne sie war ich ein Irrer. «Der Doktor kommt gleich», sagte ich zu mir selbst. «Legen Sie einfach Ihr Handtuch auf den Liegestuhl, ziehen Sie Schuhe und Hemd aus, und dann kommt er mit dem Beruhigungsmittel, sobald er mit den anderen Patienten fertig ist.»
Ich zog mein T-Shirt aus, und da war ich, nackt, leichte Beute für tieffliegende Überwachungsflugzeuge. Nackt am helllichten Tag, umgeben von Fremden, die sich vom Rücken auf den Bauch rollten und die Seiten ihrer Bücher und Zeitschriften umblätterten. Immerhin brauchte ich mich nicht selbst anzusehen. Es gab keine Spiegel oder Tafelglasfenster, und solange ich stramm geradeaus blickte, konnte ich, dachte ich, mich mählich mit meiner öffentlichen Nacktheit abfinden. Ich hatte mich gerade an diesen Gedanken gewöhnt, als sich mir ein Mann namens Dusty näherte, der an seinem mützenlosen Mützenschirm mit Wäscheklammer ein Stück Pappe befestigt hatte, um dessen schattenspendende Eigenschaften noch zu erweitern. Der Mann war vornüber gekrümmt, von Osteoporose gezeichnet, Rücken und Schultern glänzten dunkelbraun wie feines italienisches Leder, während der Bauch aus Mangel an Sonne weiß geblieben war. Sein volles graues Haar trug er kurzgeschnitten, sowie, zu meinem Entsetzen, eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, welche mit großer Deutlichkeit den Anblick meiner bleichen, zappeligen Nacktheit reflektierten. Ich stellte ihm eine Frage zum Thema Whirlpool, und zwanzig Minuten später ließ er sich immer noch über die Aufteilung seines Heimatorts in Gewerbe-, Geschäfts- und Wohngebiete aus. «Ich glaube nicht, dass sie juristisch das Recht haben, da ein Lebensmittelgeschäft hinzustellen, weil die Gegend nicht als Geschäftsgebiet ausgewiesen ist. Früher gab es da ja einen kleinen Tante-Emma-Laden, wo man Brot und Brause und so fort kaufen konnte, aber der wurde geschlossen und zu einer kleinen Kirche umgewidmet, wo die Erweckungsprediger, die mit Schlangen arbeiten, auftreten können. Man könnte natürlich ein Haus mit Eigentumswohnungen hochziehen, aber da muss man erst beim Stadtrat nachfragen, ob es da irgendwelche Beschränkungen nach oben gibt. Ich vermute mal, wenn der Komplex groß genug ist, lassen sie da wahrscheinlich einen Lebensmittelladen zu, aber keinen großen, weil das Umfeld nicht ausdrücklich als Geschäftsgebiet ausgewiesen ist.»
Hatte ich mich irrtümlich als Grundstücksspekulant vorgestellt? Warum musste er mich unbedingt ansehen, wenn er mit mir sprach?
«In der Großstadt kann man sich natürlich, denke ich mal, einen siebenstöckigen Bienenkorb aus Glas und Beton hochziehen, wenn man genug Geld hat, alle zu bestechen. So läuft das doch da, wo du herkommst; alles geht, wenn man die nötigen Barmittel besitzt. Und dann kommst du hierher und glaubst, wir sind alle nur ein Haufen stumpfsinniger Hinterwäldler!» Er sabberte, fuhr sein Gesicht zu einem unheimlichen, übertriebenen Grinsen aus und ließ die Zungenspitze einmal komplett um seinen Mund gleiten. «Wir sind eine Bande von Bauerntölpeln, stimmt’s?»
Tja, Dusty, wo du gerade das Gespräch darauf bringst …
Er wedelte mit den Händen, als wolle er mich verzaubern. «Dir seid ja alle so herrlich intellektuell, wie ihr da in euren kleinen Cafes sitzt und zum Empire State Building hinaufblickt, während wir hier im Heuhaufen liegen und Maiskolbenpfeife rauchen. So ist es doch, oder?»
Er war gleichzeitig feindselig und neckisch, und diese Einstellung teilten viele, die ich bisher kennengelernt hatte. Ich hätte problemlos aus einer militanten Moslemnation kommen können, aber bei New York schien den Leuten irgendwas gegen den Strich zu gehen. Dies war ein Camping- und Spaßplatz für die ganze Familie, und New York war, für viele von ihnen, ein Ort, an dem gesunde Familien regelmäßig aus Sport abgeknallt wurden. Ich konnte mir ein Bein ausreißen und einen Wohnanhänger bewundern oder die Landschaft preisen, aber es reichte nie. Dustys Hänger war in der Nähe geparkt und ich machte ihm ein Kompliment für seinen gepflegten Vorgarten. «Ganz hübsch, was?», sagte er.
«Sehr hübsch.»
«Was hältst du von der Kloschüssel, die ich als Blumentopf verwende?»
«Eine prima Idee, Dusty und die Blumen sind wunderschön.»
«Damit hast du verdammt recht, dass sie wunderschön sind. Da, wo du herkommst, könnte man wahrscheinlich keine Toilette im Vorgarten aufstellen.»
«Nein, Dusty, das wäre wahrscheinlich keine sehr gute Idee.»
«Sie würde nämlich vollgeschissen, das würde sie nämlich! Die New Yorker würden einmal um den Block Schlange stehen, um dir in den Vorgarten zu scheißen, im Gegensatz zu hier.»
«Ja, im Gegensatz zu hier.»
«Hier draußen ist es doch richtig schön still. Man kann sich selbst denken hören!»
Ich stimmte ihm zu und sagte: «Ja, es ist ganz herrlich. Kein Diebstahlalarm, keine Sirenen. Das einzig Aufregende hier ist dieses laute Furzgeräusch jeden Abend bei Sonnenuntergang.»
«Gefällt dir das?», sagte er. «Das bin ich! Ich habe nämlich einen Schlauch, sooo lang, und versuche jeden Abend zu üben. Keine Trompete, nicht so was Schickes, nur ein langes Stück Plastik. Der alte Pete Manchester in Parzelle 37 hat eine Muschel, ein sogenanntes Tritonshorn, und die setzt er an die Lippen, und dann tuten wir uns an, nur so zum Zeitvertreib. Die meisten Menschen sind bei Einbruch der Dunkelheit in ihren Häusern und spülen Geschirr; nicht so ich! Ich habe kein Geschirr zu spülen, weil ich ausschließlich rohes Gemüse esse. Aber ja. Ich versuche, richtig zu leben und jeden Tag eine halbe Meile zu schwimmen. Wenn es bewölkt ist, und das Schwimmbecken geschlossen ist, schlüpfe ich einfach unter die Plane, wenn keiner kuckt! Das ist natürlich heute kein Problem!»
Dusty stellte einen Fuß auf den Rand meines Liegestuhls. «O ja, heute Nachmittag haben wir ein ganz exzellentes Wetterchen. So schönes Wetter findest du bestimmt nicht da, wo du herkommst.»
Ich stimmte ihm zu.
«Sonne, blauer Himmel und nur der Hauch einer Brise: besser könnte es gar nicht kommen.» Er rückte seine Sonnenbrille zurecht und kratzte sich am Fußballen. Es waren etwa ein Dutzend Nudisten da, die Sonne tankten. Die Menschen kamen und gingen. Sie machten einen großen Bogen um den Swimmingpool, um Dusty nicht über den Weg zu laufen, der sich immer umdrehte, wenn er das Eingangstor hörte, und «Phyllis!», brüllte. «Wann kommt ihr endlich mal vorbei und seht euch meine Schildkröten an?»
«Cody und ich haben es ganz fest vor, Dusty, wir hatten nur so viel mit unserer neuen Sonnenterrasse zu tun.»
«Aha. Schon verstanden. Mit einer nagelneuen Sonnenterrasse bin ich natürlich kein Umgang mehr für euch. Alles klar.»
Auf der anderen Seite des Beckens erhob sich ein stämmiger, gutaussehender junger Mann von seinem Liegestuhl, ging in die Sauna, in den Whirlpool, ins Schwimmbecken und legte sich wieder auf seinen Liegestuhl. Er hatte eine Tageskarte und war offenbar entschlossen, seine zwanzig Dollar auszunutzen. Neben ihm saß das Ehepaar, das ich auf dem Tennisplatz gesehen hatte, und daneben blätterte eine drahtige, grauhaarige Frau in ihrem Sports Illustrated. Die 14-Uhr-pétanque-Partie hatte begonnen, ich konnte das schwache Klicken von Metallkugeln und den vertrauten Aufschrei «Toller Wurf. Gratuliere, gratuliere» hören. Der junge Mann rotierte gerade zum fünften Mal, und ich bewunderte seinen Arsch, der prall und makellos war, hoch und fest genug, dass man den Pokal hätte drauf stellen können, den ich ihm im Geiste als 1. Preis für herausragende körperliche Leistungen verliehen hatte.
«Hast du schon mal einen Komposthaufen gesehen?» fragte Dusty. «Ich hab in meinem Hintergarten einen am Laufen, und du würdest staunen, was da alles los ist. Alle Arten von Geschöpfen schauen vorbei, um ein bisschen davon zu knabbern: Stinktiere, Vögel, süße, kleine Backenhörnchen. Außerdem natürlich die guten, alten Fliegen und Maden, die sich gern schon mal einbuddeln, wenn alles schön mulschig ist.»
Ich spürte, wie ich brannte; mein Fleisch spannte sich und trocknete aus. Im Spiegel von Dustys Brillengläsern konnte ich sehen, wie mein Gesicht die rosa Periode überwunden hatte und tiefrot und feurig angelaufen war.
«Tut mir leid, Dusty, aber ich muss in meinen Hänger und mich mit Sonnenöl einreiben.»
«Ach», sagte er, «teilst du mir auf diese Weise mit, dass ich dich langweile? Bin wohl nicht so aufregend wie all deine Freunde in der großen Stadt?»
Er belästigte mich weiter, während ich mir mein T-Shirt anzog und mein Handtuch zusammenfaltete. «Macht man das so, da, wo du herkommst, dass man einfach weggeht, während die Leute noch mit einem sprechen?»
«Ja, Dusty, genauso macht man das.»
Die Aufregung, die ich anfangs gespürt hatte, ließ nach, und es kam mir überhaupt nicht mehr neuartig vor, nackt in meinem Wohnwagen herumzulaufen. Meine Haushaltsnacktheit wurde zur Routine und das machte mir aus irgendeinem Grunde Angst. Nachdem ich die Tür verrammelt hatte, legte ich mich aufs Bett und versuchte zu masturbieren, nur um meinen Penis daran zu erinnern, dass er nicht so frei war, wie er glaubte. Normalerweise habe ich mit dieser Übung ebenso wenig Probleme wie mit deren Abschluss, aber plötzlich fiel mir die Konzentration schwer. Ich versuchte, an den jungen Mann am Swimmingpool zu denken, aber sein Körper wurde wiederholt von der Bühne geschubst und durch lebhafte Visionen von Dusty ersetzt, dessen enorme Hoden wie ein Wespennest zwischen seinen verschrumpelten Beinen hingen. Ich hatte noch nie einen Penis mit Sonnenbrand gehabt und machte mir Sorgen, dass mein unablässiges Gezerre den gleichen Effekt haben könnte, wie wenn man zwei Stöckchen gegeneinanderreibt, sodass erst ein feines Rauchwölkchen aufsteigt und dann auch schon die Flamme lodert. Es war klar, dass mein Penis die Zusammenarbeit verweigerte. Ich überlegte, ob ich ihn vielleicht zwinge, fürchtete aber eine Art Brandblase, und dann hätte ich mich bis zu meiner Abreise verstecken müssen. Erst mal hatte mein Penis die Oberhand behalten und lag hämisch auf seinem Nest. «Na schön», flüsterte ich. «Diese Runde hast du gewonnen. Genieß den Sieg, solang du kannst, denn wenn wir nach Hause kommen, setzt es etwas. Amen.» Als ich heute Abend nackt aus der Sauna zurückging, kam ich an einer Gruppe älterer Mitbürger vorbei, die sich versammelt hatten, um sich im Fernseher des Klubhauses Glücksrad anzusehen.
«Lass dir ein E geben!», schrie jemand den Bildschirm an. «Nein, ich meine natürlich ein C; sie soll dir ein C geben.» Die Sprecherin war eine weißhaarige Krawallschachtel mit runzliger, sonnengetrockneter Haut von Farbe und Beschaffenheit einer blonden Rosine. Sie trug nichts außer einem Paar Schlafzimmerpantoffeln und einem Strickpullover, den sie sich über die Schultern gelegt hatte. «Ich meine aber doch ein B, genau, ein B.»
Seltsam, so fernzusehen. Weil sie angezogen sind, wirken die Menschen im Fernsehen noch weiter entfernt. Es ist, als bewohnten sie eine andere Welt, vertraut zwar, aber auch durch hohe Zäune und aggressive Grenzposten unzugänglich gemacht.
«Ich finde, die Sendung sollte nackt sein.» Die Frau wischte zerstreut über die Tischplatte. «Das wäre doch viel besser; was meint ihr? Dann könnte man das ganze Geld, das die Moderatoren für Klamotten ausgeben, noch auf die Geldpreise drauflegen. Wenn die Sendung nackt gedreht würde, würde ich auch mitmachen und genug gewinnen, um … Ich weiß nicht; ich könnte mir vielleicht einen See ausbaggern lassen und ihn mit lauter Booten füllen. Ich mag Boote, hab sie schon immer gemocht. Es gibt nichts Schöneres als ein Boot.» Sie kratzte sich am Arm, was weiße Spuren hinterließ, die bald verschwanden, sodass die Haut ihre natürliche Farbe wieder annahm.
Mir gefällt der Gedanke, dass man zwei separate Versionen jedes gegebenen Programms flmt, die eine bekleidet und die andere auf das zugeschnitten, was der Sender als sein riesiges nudistisches Publikum sah.
«Muss ich wirklich?», würde dann Peter Jennings fragen.
Heute ist Freitag, und ich wachte von einem lauten, schleifenden Geräusch auf, welches, wie sich herausstellte, vom befahrbaren Rasenmäher ausging, mit dem der Enkel des Besitzers seine Kreise zog. Er war mehrere Runden gefahren, bevor seine Mutter angerannt kam und rief: «Was ist denn in dich gefahren, sag mal, du Trottel, du kannst doch nicht so den Rasen mähen, oder was. Leg doch um Gottes willen ein Handtuch unter!»
Heute Morgen ging ich ans Schwimmbecken und sah, wie ein Mann seinen Kolostomiebeutel entfernte und sich ein Stück Plastik über das Loch klebte, bevor er ins Wasser stieg. Ich dachte, wie unbehaglich er sich fühlen musste, drehte mich um und sah einen sehr alten Mann, der am Stock ging und keinen Penis hatte. Er war nicht vom Wasser eingeschrumpelt; er hatte einfach keinen. Sein Hodensack war groß und unbehaart, aber wo der Penis hätte sein sollen, war nur eine kleine Höhlung. Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte, und sagte nur: «Ganz schön heiß heute, was?»
Ich versuche meinen Sonnenbrand nicht zu verschlimmern und habe deshalb den ganzen frühen Nachmittag mit T-Shirt verbracht. Ich bin übers Gelände gewandert und habe die vielen Menschen gesehen, die kaum je das Klubhaus oder die Freizeitanlagen besuchen. Hier waren Männer und Frauen, die in ihren Gärten knieten und mit Geräten zum Jäten hantierten, genau wie andere Hausbesitzer auch, nur ohne hinderliche Kleidung. Auf dem Gras saßen Vater und Tochter neben einer Zementnixe, klimperten «Muskrat Love» auf ihren Gitarren, und eine Frau mittleren Alters summte mit, wusch sich die Haare und spülte den Schaum mit einem Gartenschlauch aus. Auf dem Spielplatz stand ein sommersprossiges Kind ganz allein auf der Zinne des Sperrholzturmes und hob einen Plastikeimer voller Steine. In einem Hintergarten warf ein Mann seinen Holzkohlengrill an. Seinen Brustkorb schützte er mit einer Schürze, auf welcher «World’s Greatest Chef» stand, und seinen Bulettenwender benutzte er, um eine Fliege von seinem Arsch zu verscheuchen. Das Nudistenleben war genauso profan wie das andere, vielleicht sogar noch ausgeprägter, da man nie das Gelände verlassen durfte. Dort draußen war die bekleidete Welt, nur einen Schritt vor dem Eingangstor. Dort gab es Restaurants und Kinos, ein breitgefächertes Angebot an Zerstreuungen, die meine Nachbarn aufgegeben hatten, um Hühnchenbrüstchen nackt grillen zu können. Ich hatte offenbar irgendwas verpasst. Ich hatte nackt Geschirr gespült und im Klubhaus gegessen, hatte mir Kartoffelchipskrümel aus dem Schamhaar gepflückt und mich gefragt, was die ganze Aufregung sollte. Ich habe nackt pétanque gespielt und nackt ferngesehen, und danach habe ich nackt gegähnt und fand nicht, dass sich dieser Seufzer von bisherigen Bekundungen der Anödung unterschied. Ich höre die Menschen sagen: «Warum sollen wir zum Mittagessen in die Stadt, wenn wir hierbleiben und nackt sein können?» Man mag ja gern Golf spielen oder angeln gehen, aber das hält einen doch nicht davon ab, ins Warenhaus oder zum Chinesen zu gehen. Vermutlich kann man als eingefleischter FKKler überhaupt nicht irgendwohin, nur auf die paar Plätze und isolierten Strände, wo sie einen haben wollen. Alle sind aufgeregt, weil am Wochenende viele neue, angeblich jüngere Tagesgäste und Wohnwagenbesitzer kommen sollen, die noch nicht im Rentenalter sind. Am späten Nachmittag ging ich zu den Liegestühlen am Swimmingpool und lernte ein lustiges Paar in den späten Dreißigern kennen. Duke und Roberta haben eine Rasenpflegefirma und sie hatten gerade ihren einwöchigen Urlaub begonnen. Mit sechsunddreißig ist Roberta bereits dreifache Großmutter. Duke, ihr dritter Mann, ist mit Sportwagen, Zylinderhüten und schönen Frauen tätowiert. Alles, was er sich im richtigen Leben nicht leisten kann, ist auf Armen, Rücken und Brustkorb abgebildet. Die Direktorin des FKK-Geländes sieht es nicht gern, wenn getrunken wird, aber das Paar arbeitete sich trotzig durch das dritte Sechserpack und hatte die leeren Dosen zu einer von Bienen bedeckten Pyramide auf einem der dortigen Tische aufgetürmt.
«Duke hier ist der große Nudist», sagte sie. «Er hat zwei Jahre gebraucht, um mich zu beschwatzen, und letzten Sommer sind wir dann schließlich mit eigenem Hänger hergefahren. Es ist hier auch ganz prima; nur diese gottverdammten Snobs gehen mir auf den Geist. Manche tragen die Nase so hoch in der Luft, dass sie noch mal an ihrer eigenen Großkotze ersticken werden. Da sitzen sie auf dem Protzhügel in ihren Achtzigtausend-Dollar-Hängern und auf ihren heißgemachten Golfkarren und glauben, ihre Scheiße riecht besser als unsere. Einige dieser Zippelzicken …»
Duke tätschelte ihr kurz den Arm und nickte einer Weißhaarigen zu, die in unsere Richtung starrte.
«Was?», sagte sie. «Ich darf das Wort Zicke sagen. Das ist die Koseform von Ziege; weibliches Nutztier. Schlag’s im Wörterbuch nach, du Votze.» Sie winkte mich näher heran. «Man darf hier nicht fluchen, man kann also gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man was sagt, sonst zeigt einen so ein alter Wichser noch an wie nix.» Auf «nix» versuchte sie mit den Fingern zu schnipsen, aber die waren mit Sonnenöl beschichtet und gaben nur ein mattes Patschgeräusch von sich. Roberta klärte mich über jeden auf, wobei sich ihre Gemütslage von Zorn zu einer besoffenen, schlabbrigen Sentimentalität wandelte, die ich abstoßend gefunden hätte, wenn Roberta mir nicht so lieb gewesen wäre. «Sieh mich an», sagte sie und vertrieb durch Blinzeln eine Träne. «Meine gottverdammten Titten sind mir schon halbwegs auf die Knie gesackt, Fettrollen hängen links und rechts vom Stuhl herunter, aber scheiß doch der Hund drauf; Hauptsache, mir geht’s gut, oder?» Ohne Vorwarnung packte sie mein sonnverbranntes Gesicht und barg es an ihrer Brust. Eine fingerhutgroße Brustwarze stach mir ins Auge, sie hielt mich fest und wiegte meinen Kopf, als wäre er ein Baby.
Mir ist aufgefallen, dass die FKKler, wenn sie gezwungenermaßen in die Stadt gehen, in angekleidetem Zustand einen schäbig-exzentrischen und unbehaglichen Eindruck machen, wie Katzen, die man für ein bescheuertes Foto herausstaffiert hat. Sie krallen sich an ihren Knöpfen und Reißverschlüssen fest, ihre Augen sind wild und verzweifelt. Weil Kleidung sie nicht interessiert, sind die meisten imstande, alles zu tragen: Streifen mit Karos; Hosen, drei Größen zu groß oder zu klein …; es ist ihnen schlicht wurscht. Heute Morgen habe ich eine Frau gesehen, die ihr Sweatshirt wie eine Toga trug, das Loch für den Kopf unterm Arm, um eine Brust freizulegen. Ich habe viele Trainingsanzüge gesehen, und viele Paare neigen dazu, einen Trainingsanzug als zwei verschiedene komplette Outfits anzusehen. Wenn es morgens noch kühl ist, trägt die Frau das Unter-, der Mann das Oberteil. Ich frage mich, ob es nicht die totale Unfähigkeit ist, sich einigermaßen passend einzukleiden, was sie überhaupt zu Nudisten werden ließ. Wenn man aus New York hierherkommt, ist es ermutigend, einen Raum zu betreten, ohne nach der Kleidung beurteilt zu werden. Trotzdem, so schlecht ich mich auch anziehe: Alles ist angenehmer, als nach meinem Charakter beurteilt zu werden.
Heute Abend findet die geplante Penner-Party statt, und wir wurden angewiesen, bis Mittag eine Dose mit Gemüse zum Pavillon zu bringen. Ich nahm die einzige Dosenkonserve, die ich im Lebensmittelladen gekauft hatte, und trug sie hügelab, wo ich zwei nackte Frauen mit Kochmützen traf, die in einem Kessel mit Hackfleisch und Wasser rührten.
«Bete, dass keiner mehr mit Mais ankommt», sagte die dickere von beiden. «Der Mais kommt uns ja jetzt schon sonst wo raus.»
Ich stellte meine Dose Mais ab und fragte, was sie mit «inkl. Große Plörre» gemeint hätten.
«Eine Suppe. Das hier ist der Fond, und wir kippen alles rein, was die Leute mitbringen, wie, zum Beispiel in deinem Fall, Mais. Gegen fünf haben sich dann alle als Landstreicher verkleidet und wir essen aus Blechbüchsen. Es gibt sogar einen Preis für das beste Kostüm. Das wird lustig. Du wirst schon sehen.»
Als ich am Abend zur Penner-Party inkl. Große Plörre zurückkehrte, aßen fast hundert Menschen aus Büchsen. Ein Mann hatte sich Holzkohle auf die Wangen geschmiert. Er trug einen Schlips und einen zerfetzten Sportsakko und hatte einen Spazierstock da- bei, an dem er eine Einkaufstüte aus Plastik befestigt hatte. Alle anderen waren nackt, also bekam er den Preis für das beste Kostüm.
Beim Essen sprach ich mit einer kleinen Oben-ohne-Mutter von vier erwachsenen Kindern und die sagte zu mir: «Ach, du hättest letztes Jahr beim Puddingwerfen dabei sein sollen.»
«Wie bitte?» Puddingwerfen. Ich dachte, das wäre vielleicht der nudistische Ausdruck für ein Jeder-bringt-was-mit-und-isst-was-auf-den-Tisch-kommt-Diner. Pudding sperrt sich doch eher dem Geworfen-werden, oder? «Nein, nein, werfen kann man ihn, man kann ihn nur nicht fangen!» Sie lachte in sich hinein und wischte ihre Blechbüchse mit einer Scheibe Brot aus. «Wir machen den Pudding in mehreren Fünfgallonenzubern und tragen ihn aufs Feld und da kämpft dann die Schokoladenmannschaft gegen die Vanillen. Man greift einfach voll rein und schmeißt ihn auf die anderen und das hat ja einen solchen Spaß gemacht. So einen Spaß! Bienen und Fliegen hatten den Platz in den nächsten Wochen ziemlich für sich selbst. Viele sind auch gestochen worden, deshalb machen wir es dies Jahr nicht wieder.» Sie musterte kurz die Rinde ihrer Scheibe Brot. «Immer wieder denke ich, wenn wir vielleicht Diät-Pudding genommen hätten, wäre das nicht passiert, aber nein, nein, ich darf einfach nicht mehr dran denken und muss mich anderem zuwenden. Was vorbei ist, ist vorbei.»
Ihr Mann tätschelte ihr sanft die Hand. Ihr Kummer war so real, dass man meinen konnte, sie hätte ein Kind eingebüßt – und nicht die Gelegenheit, mit einer Handvoll Pudding um sich zu schmeißen. Heute ist Sonntag, und wenn ich aus dem Schlafzimmerfenster sehe, merke ich, dass viele der heutigen Besucher in der Kirche waren. Männer, Frauen und Kinder stehen neben ihren Autos und ziehen ihre nüchternen Kostüme aus. Die Anzugsjacketts und Kleider werden sorgsam zusammengefaltet und auf Rücksitze gelegt. Es wäre schrecklich, sich hier aus seinem Auto auszusperren, denn der nächste Drahtkleiderbügel hängt wahrscheinlich erst in fünfzehn Meilen Entfernung. Wahrscheinlich wäre es auch schrecklich, hier ein Bügeleisen zu suchen, aber wenn man eine Bibel braucht, hat man kein Problem. Die Regale im Klubhaus sind voller religiöser Bücher und Schriften, und mehrere FKKler waren neulich bei der Christian Nudists Conference, die auf einem Gelände in Ost-North Carolina abgehalten wurde. Einer der heutigen Besucher war presbyterianischer Geistlicher, ein rundlicher Mann mit Sommersprossen im Gesicht und Daffy Duck auf den Arsch tätowiert. Er trug es mit Stolz und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf einen Körperteil, den Gott der Herr eindeutig nicht mit Muskeltonus oder reiner Haut gesegnet hatte. Der Schnabel des Erpels war aufgebläht und er schien an einem Ausschlag aus Erdbeeren zu picken.
Es gab heute eine ganze Reihe neuer Gesichter zu sehen. Ein schwarzer Mann erschien in Gesellschaft zweier enormer weißer Frauen, deren Körper zwiefach eine Masse walzenförmig angeordneten, grübchenbehafteten Fleisches waren. Fett quoll über ihre Knie, und ihre Bäuche fielen wie schwere Säcke mit Vogelfutter, bedeckten ihre Scham und hingen bis halb über die Oberschenkel. Beine wie Baumstämme mündeten schnurstracks in Sandalen und ließen dabei Dinge wie Fußknöchel oder Waden unerwähnt. Die Frauen blieben unbemerkt, doch nicht so der Mann. «Wer ist der farbige Typ?», fragten alle. Es war, als trüge er einen Speer und dazu eine Halskette aus Schrumpfköpfen. Man spekulierte, er sei Zuhälter oder handele mit weißen Sklavinnen und sei auf der Suche nach naiven Nudistenmädchen aus der großen Stadt gekommen. Ich hielt mich beim Schwimmbecken auf, als der schwarze Mann im Gespräch mit Dusty erwähnte, er habe zwei Söhne in Penn State.
«Das ist hart», sagte Dusty. «Ich habe selbst einen Neffen im Gefängnis und weiß, was du da durchmachst. Wann kommen deine Jungs denn wieder raus?»
Das war der erste Tag, an dem ich das Haus vollständig nackt verließ, ohne auch nur an ein T-Shirt gedacht zu haben. Plötzlich kam es mir ganz normal vor, die Zigaretten in die Socke zu stecken und nur mit einem Handtuch vor die Tür zu gehen. Der Tag war bedeckt gewesen, der Himmel war fach und senffarben. Als ich gerade die Hoffnung auf eine Auffrischung meiner Sonnenbräune begraben wollte, kam die Sonne heraus, und Hunderte von Menschen strömten Richtung Pool. Die Luft füllte sich mit dem Duft von Bräunungslotion und vom Spiel- bis zum pétanque-Platz wurde Wohlwollen verströmt. Die verschiedenen Sonnendecks, -Gehege und -Pferche waren voll ausgelastet und ich wanderte auf der Suche nach einem Platz für mein Handtuch umher. Duke und Roberta hatten einen Tisch neben dem heißen Whirlpool, ich setzte mich zu ihnen und lauschte mit ihnen einer Frau in den frühen Fünfzigern. Die Frau sprach von einem Nudisten-Kurort in Arizona, wo eine Nacht Lagern nur fünf Dollar kostete. «Und», sagte sie, «jetzt kommt’s: Die holen einen sogar kostenlos am Flughafen ab und fahren einen aufs Gelände! Es ist ganz herrlich da und die Menschen? Ich kann, glaube ich, sagen, dass es in Arizona ein paar großartige nackte Menschen gibt; lasst euch da bloß nichts anderes erzählen.»
Ich hörte ihr gute zehn Minuten lang zu, bevor mir klar wurde, dass ihre rechte Brustwarze fehlte. Nicht die Brust, nur die Warze. Die Chirurgen hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet, die Narbe war kaum zu sehen und ähnelte einem winzigen Stück Angelschnur. Es war, als hätte ich entdeckt, dass jemand sechs Finger hat statt fünf. Wäre sie die erste Nudistin meines Lebens gewesen, hätte ich das sofort bemerkt, aber es gehörte zu meinem unbekümmerten Umgang mit der eigenen Nacktheit, dass ich sie bei anderen nicht mehr wahrnahm.
«Betsy ist ein richtiger Mensch», sagte Roberta, nachdem die Frau gegangen war. «Und mir gefällt, was sie mit ihrer Möse gemacht hat. Sieht echt niedlich aus. Mir würde so was eher nicht stehen. Aber ich bin ja auch grobknochiger.»
Ich hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt und blickte über den Rand des Sonnendecks, wo die Frau sich jetzt mit dem zu Besuch weilenden Geistlichen unterhielt.
«Da draußen in Arizona gibt es ein paar ganz süße nackte Menschen und sie bringen einen kostenlos aufs Gelände», sagte sie gerade. Dann sah ich, dass sie sich das gesamte Schamhaar bis auf ein Hitlerbärtchen abrasiert hatte. Der freigelegte, sonnenlotionbeschichtete Vaginalbereich ähnelte einem dieser glänzenden Kleingeldportemonnnaies aus Plastik, die es bei Banken und Autohändlern umsonst gibt und die nur von sehr Jung und sehr Alt verwendet werden. Die Redewendung Stimmt so kam mir in den Sinn. Jetzt bin ich schon eine Woche hier und habe immer noch nicht kapiert, wie das mit dem Rasieren läuft. Männer mit Fünf-Uhr-Schatten im Gesicht, aber frischen, blutenden Rasierschmissen auf dem kahlen Skrotum sind ein alltäglicher Anblick. Tut man das, um die Zeckensuche zu beschleunigen, oder rasieren sich diese Männer und Frauen das Grau ab, um jünger zu wirken?
«Damit die Möbel nicht voll Haare sind», sagte Roberta. «Ich persönlich würde da mit der Staubhexe drüber gehen, aber scheiß doch der Hund drauf, jedem das Seine. Da spart man vielleicht ein bisschen Zeit beim Saubermachen, aber wenn man bedenkt, wie viele Stunden die mit Rasieren zubringen, weiß ich nicht, ob das wirklich so rationell ist. Am allerbesten ist es wahrscheinlich, wenn man sich ein Sofa kauft, das zur Haarfarbe passt; da kann man dann das Rasieren und das Saubermachen vergessen. So hab ich das jedenfalls gemacht und bisher sind keine Klagen gekommen, stimmt’s, Duke?»
Das war heute mein letzter Vormittag auf dem FKK-Gelände. Als ich gestern Abend aus der Sauna zurückkam, sah ich, wie eine nackte Frau aus meinem Anhänger rannte und in ein wartendes Auto sprang. Es war Roberta und sie hatte eine Notiz hinterlassen. Sie lud mich ein, Duke und sie zum Frühstück zu besuchen. Bevor ich hier angekommen war, hatte ich mich gefragt, wie es wohl wäre, zum Essen zu jemandem nach Hause zu gehen. Laut meiner Mutter ging es in Ordnung, wenn man seinen Teller als Aschenbecher benutzte, unter gar keinen Umständen dagegen betrat man ein Haus barfuß. Dies bedenkend, trug ich Turnschuhe und nahm, für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass sie sich zum Essen anzogen, eine Leinentasche mit, die ich mit Handtuch, Hemd und Shorts gepackt hatte. Als ich hinkam, saßen meine Gastgeber nackt in ihrer Kochnische, spielten SuperNintendo und hörten sich im Radio einen dieser frühmorgendlichen Schlauberger an. Im Gegensatz zu meinem Anhänger, der fest verankert war, war ihrer dazu da, vom Auto gezogen zu werden, und stand auf einem winzigen Rasenstück, die Räder mit Ziegeln blockiert, damit er nicht den Hügel hinunterrollte.
«Warum so förmlich?», fragte Duke. «Zieh dir die Schuhe aus und bleib ein bisschen.»
Wir klemmten uns um einen winzigen Einbautisch, und Roberta präsentierte ein kissengroßes Omelette, gefüllt, wie sie sagte, «mit allem möglichen Scheiß. Vielleicht ist sogar ein bisschen Katzenstreu drin; möglich ist alles. Wir haben die kleinen Fickbiester zwar zu Hause gelassen, aber der Kram schafft es immer wieder überallhin. Na, nun esst erst mal auf.»
Hin und wieder gibt jemand eine kleine Information preis, die plötzlich alles ändert. Ich fragte, wie viele Katzen sie hätten, und Roberta holte Block und Blei hervor. «Mal sehen, siebzehn plus zwölf minus zwei plus die eine, die das Arschloch zurückgebracht hat, als sie ihm auf den Teppich geschissen hatte.» Sie plierte das Papier an und kämpfte mit den Zahlen. «Achtundzwanzig. Bei der letzten Zählung hatten wir achtundzwanzig Katzen, aber das ist nun auch schon wieder ein paar Tage her. Coppertone hat letzten Monat acht Junge geworfen, und ich hab noch versucht, diese kleinen Arschlecker unterzubringen, als Wieheisstsienoch, der kleine Krüppel, direkt auf dem gottverdammten Bett vier Babys kriegte, während Duke und ich es gerade so nett miteinander trieben.» Sie hob die Schultern; das Rätsel blieb. «Ich weiß nicht, wo die verdammten Biester herkommen. Wir haben offenbar besonders spitze Katzen erwischt, nehme ich mal an. Duke hier hat mal eine der Mütter weit hinaus aufs Land gefahren und ihr einen ordentlichen Tritt in den Arsch gegeben und sie ausgesetzt, als er an einem ganz besonders gutaussehenden Bauernhof vorbeikam. Dreißig Meilen hat er sie durch die Gegend gegurkt, aber eine Woche später hat die kleine Nutte bei uns wieder die Möblierung zerstückelt, als war nix gewesen. Was soll man machen?»
Ein geschwärzter Pilz fiel meiner Gastgeberin aus dem Mund und blieb auf ihrer Büste liegen.
Roberta – und alle anderen, die ich hier kennenlernte, hatten das auch – hatte noch etwas Größeres und Definitiveres an sich als nur die Nacktheit. Die Leute waren Briefmarkensammler und Gärtner, Funkamateure, ehrenamtliche Krankenpfleger und Haustierhalter im großen Stil. Es war nicht anders als anderswo, nur dass diese Menschen, wenn sie ihre Passionen beschrieben, zufällig nackt waren. Sie lebten in Dosen und nicht in Häusern und priesen sich glücklich, wenn ihnen ein warmer, sonniger Tag es erlaubte, ihr Heim zu verlassen und unter Menschen zu wandeln, die in mindestens einem Punkt Gleichgesinnte waren. Das ist doch nicht zu viel verlangt, und wenn ihnen etwas Katzenstreu ins Omelette geraten sein sollte, dann sei es so.
Der Nudismus brachte mich nicht dazu, meinen Körper zu lieben, er gestattete mir lediglich, meinen Platz im Großen Plan zu erkennen. Setzen Sie sich neben einen Achtzigjährigen, und Sie sehen den schlaffen, altersfleckigen Körper, der Sie erwartet. Anstatt in Panik zu verfallen, scheine ich angesichts dieser Wahrheit ruhiger zu werden. Inmitten einer Vielzahl nackter Fremder zum Klubhaus marschierend, fand ich, dieser Vorgang sollte im Off von einer jener gedämpften Gelehrtenstimmen kommentiert werden, wie sie im Fernsehen bei Natursendungen Verwendung finden.
Ich hatte vorgehabt, mit dem Taxi zum Busbahnhof zu fahren, aber Jacki und Millie boten mir an, mich hinzufahren. Es war das erste Mal in dieser Woche, dass ich mich anziehen musste. Man hatte nicht mehr die Wahl, sondern es war Pflicht, und ich stellte fest, dass mich das ärgerte. Man lasse seine Hose kaltwerden und schon gibt es Ärger. Wir fuhren in die Stadt und zupften an unseren Klamotten. Jacki hatte einen Aufkleber an ihrem Auto – «FKKler an Bord!» –, und ich bemerkte, wie andere Autofahrer dicht auffuhren, bevor sie überholten, wobei sich in ihren Gesichtern tiefe Enttäuschung spiegelte. Wären wir nackt gewesen, hätten sie wahrscheinlich Blut gespien. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Nudisten so ziemlich die letzten Menschen sind, die man jemals nackt sehen möchte.
Während der Fahrt in die Stadt stellte Millie Überlegungen über den bevorstehenden Sonnenanbeter-Kongress an, der nächste Woche in Massachusetts stattfinden sollte. «Da habe ich Phil geheiratet», sagte sie unter Bezugnahme auf ihren zweiten Gatten. «Meine vier Söhne waren Brautführer, so nackt und schön, wie man sie sich nur wünschen konnte. Wir haben immer so viel Spaß miteinander gehabt, meine Kinder und ich. Überall waren wir, im FKK-Gelände und an Nacktstränden, aber dann wurden sie älter und haben textilorientierte Mädchen geheiratet, die nichts mit meinem Lebensstil zu tun haben wollen.» Sie schüttelte den Kopf und betrachtete missmutig die vorbeiziehende Landschaft. «Warum mussten sie solche Mädchen heiraten? Da versucht man, anständige Menschen aus ihnen zu machen, und dann das.»
Dies war die Klage aller Eltern. Da versucht man und dann das. Jacki hatte das gleiche Problem: Die Kinder, die sie nackt großgezogen hatte, gaben jetzt ihr ganzes Geld für Klamotten aus. Sie hatten sich noch nicht einmal ihren neuen Wohnanhänger angesehen. Wie war es passiert? Wann hatten sie entschieden, dass es falsch war, ihre Mutter nackt zu sehen, wie sie am Spülstein steht oder niederkniet, um den Mülleimer feucht auszuwischen? Hatte irgendwann ein Schlüsselerlebnis stattgefunden?
«Ich weiß es auch nicht», sagte Millie. «Vielleicht frage ich sie, wenn sie nächstes Mal Geld wollen.»
Die Frauen setzten mich am Busbahnhof ab, ich hatte noch zwanzig Minuten Zeit, rannte die Straße auf und ab, kam an College-Studenten in halblangen Schlabberhosen und an Bankbeamten in marineblauen Anzügen vorbei. Zum ersten Mal seit, wie es mir vorkam, Jahren sah ich Strümpfe und Handtaschen. Körper, dick und dünn, waren in Hosen und Faltenröcke gepackt. Jeder Outfit ähnelte einem Kostüm, eigens zu dem Zweck entworfen, die Ziele, Hoffnungen und Sehnsüchte des Trägers zu enthüllen. Der junge Mann auf dem Bürgersteig wäre gern, sobald Skateboard fahren als olympische Disziplin zugelassen wird, in der betreffenden Nationalmannschaft. Das Mädchen mit dem Kunststoffrock wäre liebend gern in einer größeren Stadt. Ich merkte, wie ich diese Menschen ansah und dachte: Ich weiß, wie du nackt aussiehst. Das sehe ich an deinen Fußgelenken und daran, wie eng du dir den Gürtel schnallst. Dein rotes Gesicht, das Haar, das dir aus dem Kragen sprießt, das Hemd, das dir um die knochige Hüfte schlottert: Vor mir kannst du es nicht verstecken.
Es war, als hätte ich endlich die echte Röntgenbrille bekommen, die ich als Kind bestellt hatte. Hinten in den Comics wurde für diese Brillen geworben, welche die Fähigkeit verleihen sollten, durch Kleidung hindurchzusehen. Ich hatte die Tage gezählt, bis die Brille endlich kam, und war klinisch enttäuscht, als ich entdeckte, dass man mich betrogen hatte. Sie bestand aus einem schwarzen Plastikgestell mit Gläsern aus Pappe. Die Augäpfel erschienen blutunterlaufen und die Pupillen waren winzige Gucklöcher vor schlichtem roten Acetat. Die Brille gab mir, wenn ich sie denn trug, den Ausdruck eines Menschen, den das, was er sah, sowohl begeisterte als auch erschöpfte. Sie suggerierte die manische Mattigkeit, die bereits in dem begründet lag, was sie versprach; sie hielt den Augenblick fest, in dem der Glanz zu schwinden beginnt und die neugefundene Gabe zu etwas wird, was eher einer Bürde ähnelt.